Studieren mit Behinderung

An den Mythos des sorgenfreien Studentenlebens denken heutzutage die wenigsten. Straffe Studienpläne nach der Bologna-Reform, hohe Studiengebühren, überfüllte Hörsäle und unbezahlte Praktika gehören zum Alltag vieler Studenten. Besonders Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung schrecken daher oft von einem Studium ab, aus Angst nicht mithalten zu können. Doch mit der richtigen Vorbereitung und Organisation haben sie chancengleiche Zugangs- und Studienbedingungen und können an der bereichernden Erfahrung des Studiums teilhaben.

Mit Behinderung oder chronischer Erkrankung problemfrei studieren

Nach einer Studie des Deutschen Studentenwerks vom Sommersemester 2012, gaben 7% der Studierenden, beziehungsweise circa 137.000 Personen, eine studienerschwerende Gesundheitsbeeinträchtigung an. Bei 2,2% war diese im mittleren Bereich, während 1,8% eine starke Beeinträchtigung aufwiesen.

Wenn von Behinderung die Rede ist, bezieht sich das deutsche Hochschulrecht auf folgende Definition des Sozialgesetzbuchs IX, § 2 Abs.1: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“

So fallen neben den für die Außenwelt wahrnehmbaren Sinnes- und Bewegungs-beeinträchtigungen, auch chronische oder psychische Erkrankungen unter diese Definition: Autismus, AD(H)S, Legasthenie, Dyskalkulie und andere Teilleistungsstörungen, chronische Krankheiten wie Rheuma, Herz- und Nierenerkrankungen, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, Epilepsie, Asthma, Krebserkrankungen oder Diabetes, sowie psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Essstörungen. Die größte Gruppe von Studierenden mit einer Beeinträchtigung (ca. 42%) sind mit einer psychischen Erkrankung diagnostiziert. Im Vergleich sind Studenten mit Sehbehinderung (13%), Hörschädigung (4%) und motorischer Beeinträchtigung (11%) in geringerem Maße vertreten.

Allgemein haben Studierende Anspruch auf einen Nachteilsausgleich, wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung oder eine schwerwiegende Behinderung vorliegt und nachgewiesen werden kann (zum Beispiel durch ein fachärztliches Attest). Hochschulen sind verpflichtet sicherzustellen, dass weder körperlich noch geistig behinderte Studierende benachteiligt werden und die Angebote der Hochschule möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen können. Jeder Nachteilsausgleich ist somit auf die persönliche Situation des Studierenden abgestimmt.

Trotz der sicheren Rechtsgrundlage, ist der Alltag von Studierenden mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten nicht problemfrei. So gibt das Deutsche Stundentenwerk an, dass bauliche, kommunikative, strukturelle und didaktische Barrieren das Studium beeinträchtigter Studierender immer noch erschweren. Studien- und Prüfungsordnungen berücksichtigen zudem oft nicht Studenten mit Beeinträchtigungen, diese studieren im Durchschnitt länger und müssen das Studium öfter unterbrechen. Ihre Auslandsaufenthalte lassen sich oft nur mit Schwierigkeit gestalten.

Bereits als Studienbewerber, müssen sich Personen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten ausführlicher als Nicht-Beeinträchtigte informieren. Sie müssen gegebenenfalls die baulichen Gegebenheiten der Hochschule kennen, einen barrierefreien Wohnraum finden, Assistenz im Alltag und Studienunterstützung vorbereiten. Während des Studiums müssen sie zudem sicherstellen, dass sie Zugang zu entsprechenden Medien haben (zum Beispiel zu Studienmaterialien die für Seh- oder Hörgeschädigte gerecht aufbereitet sind, oder einer multisensorischen Software für Legastheniker) und gegebenenfalls einen individuellen Studienplan gestalten, der ihren Bedürfnissen entspricht (zum Beispiel mit einer Verlängerung der Bearbeitungszeiten für Klausuren und Hausarbeiten).

Selbst wenn psychische und chronische Krankheiten zwei Drittel der Behinderungen an Hochschulen ausmachen, bleiben diese oft unbemerkt und viele Studierende, die ebenfalls einen Anspruch auf Nachteilsausgleich haben, nutzen diesen nicht – sei es aus mangelnder Information oder eigener Entscheidung nicht als anders wahrgenommen zu werden. Laut Untersuchung des Deutschen Studentenwerks, empfinden sich besonders Studierende mit einer psychischen Behinderung in ihren Studienmöglichkeiten beeinträchtigt. Dabei sind sie, aufgrund der Komprimierung der Studienpläne und des Zeitdrucks in Folge der Bologna-Reform noch stärker auf Nachteilsausgleiche angewiesen.

Eine angemessene Unterstützung für Studierende mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten ist jedoch entscheidend für das Gelingen einer inklusiven Hochschulpolitik. Inklusion steht, nach der Behindertenrechtskonvention der Vereinigten Nationen, für das Recht eines jeden Menschen ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Um diese Chancengleichheit zu gewährleisten, arbeiten inzwischen viele Hochschulen in Deutschland an einem differenzierten Beratungsangebot und der Erschaffung eines barrierefreien Hochschulumfelds.

Die Landeshochschulgesetze von neun Bundesländern sehen einen Beauftragten für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung vor. Dieser gestaltet die Beratung an Hochschulen und entwickelt ein Bildungsangebot das Studierende mit Beeinträchtigung nicht benachteiligt. Unterstützung finden diese Studenten auch bei den Studienberatungsstellen der jeweiligen Hochschule sowie den Sozialberatungsstellen der Studentenwerke. Eine zentrale Anlaufstelle ist zudem das Deutsche Studentenwerk mit seiner „Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung“ (IBS).

Berater stehen heutzutage Studierenden mit Behinderung und chronischen Krankheiten an den meisten deutschen Hochschulen zur Verfügung und decken ein breites Themenspektrum – von der Bewerbung, über die Finanzierung (z.B. Fragen zu BAföG oder Stipendien) bis hin zur Prüfungs- und Studienordnung sowie der Möglichkeit eines Auslandsaufenthalts. Bisher wird dieses Beratungsangebot jedoch nur von etwa 25% der anvisierten Studierenden genutzt – überwiegend von jenen mit Bewegungs- und Sinnesbeeinträchtigungen, da Studierende mit psychologischen Beeinträchtigung fast ausschließlich die Beratung der psychologischen Beratungsstellen nutzen.

Stark vernachlässigt bisher war die Frage, wie Absolventinnen und Absolventen mit Behinderung und chronischer Erkrankung nach dem Studium in die Arbeitswelt treten. Auch hier wird nun entsprechende Beratung an den Hochschulen angeboten. Für jene, die sich für eine Promotion interessieren, wurde zudem das Projekt „Promotion inklusive“ entwickelt, welches sich unter anderem mit Problemen der Finanzierung einer fortlaufenden akademischen Karriere auseinandersetzt.

Parallel zur Beratung, bemühen sich Hochschulen auch um den barrierefreien Zugang zu Lehrgebäuden und -materialien. Da sich auch die Lehre und das Lernen immer mehr online verlagern, versucht man auch hier Rücksicht auf Studenten mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung zu nehmen. Außerdem werden Mitarbeiter an Beratung- und Servicestellen der Hochschulen für die besonderen Bedürfnisse dieser Studentengruppe sensibilisiert und entsprechend geschult.

Das Studium mit Behinderung oder chronischer Erkrankung ist offensichtlich als Thema in vielen Hochschulen präsent und es gab in den letzten Jahren bedeutsame Fortschritte in der Entwicklung entsprechender Strukturen die ein solches Studium erleichtern. Die meisten Universitäten haben eine Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung, die man schon bei der Bewerbung konsultieren sollte. Neben den Beauftragten für die Belange behinderter und chronisch kranker Studierender, sind wichtige Informationsstellen Studentenwerke sowie regionale und überregionale Interessengemeinschaften behinderter und nichtbehinderter Studierender.

Um chancengerechte Zugangs- und Studienbedingungen für Studierende mit Beeinträchtigungen zu gewährleisten, muss aber noch mehr geschehen und zwar in allen Bereichen, von der Bewerbung und Finanzierung bis hin zur Studien- und Prüfungsgestaltung sowie der Barrierefreiheit.